Rezension: Das ganz normale Böse

"Kein jemals begangener Akt der Grausamkeit, dem nicht eine verborgene Schwäche zugrunde liegt." ( Alfred Adler),

Der Psychiater und Psychotherapeut Prof. Dr. med. Reinhard Haller hat ein packendes Buch über das ganz normale Böse verfasst, indem er versucht, den Code des Bösen zu knacken. Was ist böse? Warum handelt jemand böse? Kant sah den Ursprung des Bösen in der durch Egoismus, Gier und Hass geprägten menschlichen Natur. Die psychoanalytischen Theorien betrachten die Ursache des Bösen im Todestrieb, während die evolutionsbiologische Forschung die Aggression, das so genannte Böse, als Vorraussetzung der Selbsterhaltung und Fortpflanzung interpretiert.
Der Autor benennt zu Beginn eine Reihe böser Taten und schöpft in der Folge aus seinen Erfahrungen als Gerichtspsychiater, der über 300 Mörder untersucht hat und diese in stundenlangen Gesprächen nach ihren Motiven befragt sowie nach Erklärungen gesucht hat, kommt zum Ergebnis, dass die Opfer seitens der Täter nicht selten entmenschlicht wurden, extreme Gefühlskälte und hochgradiger Sadismus auf der Täterseite und schwerwiegendste Folgen für die Opfer zu erkennen sind. Im Übrigen benennt er in diesem Zusammenhang auch die durchgeführte Verbrennung des "Ketzers" Michel Servet, der auf einem Stapel feuchten Holz durch ein "langsames Feuer" auf Betreiben Calvins drei grauenhafte Stunden gemartet wurde, bis er endlich den Tod finden konnte, das perverse Agieren der Nazi-Ärzte in den KZs, das durch Goldgier und reinem Sadismus angetriebene Wüten der Konquistatoren, die Folterungen von Frauen im Rahmen der Hexenverfolgung zwischen 1459-1750, aber auch die Tat des Josef F., der seine Tochter 24 Jahre lang in ein Kellerverlies einsperrte, um sie dort über Jahre zu vergewaltigen.

Bei den Reflektionen zum Bösen, das den Menschen seit Beginn begleitet und allgegenwärtig, aktuell und zeitlos ist, muss man unterscheiden, ob man es mit bösen Fantasien, bösen Plänen oder - was maßgebend ist- mit bösen Handlungen zu tun hat. Erst wenn aus bösen Gedanken böse Pläne mit all den furchtbaren Einzelheiten aufgebaut werden, wird nach Dr. Haller der Bereich der persönlichen Freiheit und Verantwortbarkeit zum Teil schon verlassen. Die Verwerflichkeit des Bösen hängt aber letztlich von der Frage der Umsetzung in eine konkrete Handlung ab.


Der Psychiachter definiert: "Ein Tatververhalten ist als um so bösartiger zu bezeichnen, je mehr der dahintersteckende Plan in vollsinnigem Zustand entworfen wurde und je weniger der Täter durch emotionale Einflüsse, Berauschungen, psychopathologische Phänomene oder Hirndefekte beeinträchtigt gewesen ist."

Böse Taten sind demnach solche, die genau geplant und mit eiskalter Berechnung durchgeführt werden. Der Autor zeigt anhand des "Milgram-Experiments", das später vom amerikanischen Psychologen Philip Zimbardo bestätigt wurde, mit welcher Leichtigkeit sadistische Verhaltensweisen bei Individuen hervorgerufen werden konnten, die keine sadistischen Typen waren und verdeutlicht, dass durch diese Untersuchungen das Konzept des Bösen von Hannah Arendt, der berühmten Philosophin und Holocaust-Forscherin, der Wahrheit sehr nahe kommt. Sie zeigte, dass ganz gewöhnliche Menschen, die gegenüber den Opfern keinerlei persönliche Feindschaft empfinden, zu Handlungen in einem Vernichtungsprozess seitens Autoritäten veranlasst werden können und zwar durch äußere, beispielsweise materielle Anreize.



Am Beginn vieler böser Taten, der meisten Verbrechen und jeder kriegerischen Auseinandersetzung steht eine Idee, die einen überwertigen Charakter annimmt und letztendlich fanatisch wird. Fanatische Menschen glauben im Besitz einer höheren, besseren, auf jeden Fall richtigen Idee zu sein. Sie sind geradezu besessen von einer Idee und völlig intolerant gegenüber Menschen, die anders denken. Für vernüftige Argumente sind solche Personen ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr zugänglich. Diktaturen und Kriege basieren immer auf Ideologien sowie auf solchen fanatischen und bösen Ideen. Der Fanatiker Pol Pot ließ in Kambotscha Professoren, Ärzte, Mönche und Lehrer umbringen, weil er das Land über Nacht in einen Bauernstaat verwandeln wollte. Wenn jemand eine Brille trug, wurde er zum Tode verurteilt.

Haller lotet in der Folge aus, woher böse Gefühle kommen, wo die Lust zum Quälen herrührt und weshalb Menschen herostratischen Ruhm suchen. In diesem Zusammenhang werden die Motive von Amokläufern untersucht, bei denen Kränkungserlebnisse das Selbstbewusstsein so unterminiert ist, dass sich ihre eiskalte Wut so steigert bis sie Amok laufen. Terroristen sind in der Regel keine psychisch gestörten Menschen im Sinne der Amokläufer, sondern sie handeln aus ihrem Fanatismus heraus mit Kalkül, um einer Idee zum Erfolg zu verhelfen.

Prof. Haller thematisiert auch die Untersuchungen der von mir geschätzten Analytikerin Marie-France Hirigoyen Die Masken der Niedertracht: Seelische Gewalt im Alltag und wie man sich dagegen wehren kann und unterstreicht die Boshaftigkeiten perverser Kommunikation, die die Französin so hervorragend beschrieben hat.

Das Verhalten eine bösen Vater oder einer bösen Mutter werden thematisiert, weil keine der Wurzeln des Bösen so stark ist, wie die Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern.


Erschreckend sind auch die bösen Partnerschaften, die psychische und sexuelle Gewalt in der Ehe, deren Ursachen das Streben nach Stärke, Kontrolle und Identität, schwelende innere Feindseligkeit und Hass gegenüber Frauen, Minderwertigkeits- und Ohnmachtsgefühle auf Seiten des Mannes sind.


Interessant im Hinblick auf das Böse ist die Tatsache, dass Schädigungen im Frontalhirn durch Kopfverletzungen, Tumore und Entzündungen zu erhöhter Impulsivität, Aggressivität und rücksichtsloserem Verhalten führen, kurzum zu einer Enthemmung der Triebe und Impulse. Sitz das Böse im Gehirn? Haller gibt eine Antwort darauf.

"Der Psychopath hat wenig moralisches Verantwortungsgefühl, handelt gewissenlos, zeigt oft kein Einfühlungsvermögen und ist in seinem gesamten Fühlen auf seine eigene Person fixiert". Der Autor verdeutlicht, dass nicht selten Psychopathen ein böses Verhalten an den Tag legen, dass sich leider narzisstische Störungen mit antisozialem Verhalten paaren können und für viel Unheil sorgen.

Das Buch zeigt, wie vielfältig die Ursachen des Bösen sind. Es scheint ein Teil des Menschlichen zu sein, das uns niemals loslassen wird, dem wir meines Erachtens Liebe entgegensetzen sollten, damit es keine Chance hat, sich immer mehr auszubreiten.

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