Rezension: Kommen Sie, Cohn.

Die Verblendung des Bildungsbürgertums und der 10.Mai 1933,


"Kommen Sie Cohn!" ist das letzte Werk , das Carola Stern vor ihrem Tode im Januar 2006 geschaffen hat.

Im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stehen die protestantische Schriftstellerin Clara Viebig und deren jüdischer Ehemann Friedrich Theodor Cohn. Dieser betreibt gemeinsam mit Theodor Fontanes Sohn einen Verlag. Durch den alten Dichter, der Cohn in einem Gedicht verewigt hat, lernt der Verleger Clara Viebig kennen, heiratet sie wenig später, bearbeitet fortan deren Manuskripte und verlegt ihre Bücher. Clara Viebig war wohl in der Gründerzeit und zu Anfang des letzten Jahrhunderts eine vielgelesene Schriftstellerin, die sich mit naturalistischen Themen befasste, über Landarbeiterinnen in der Eifel, über Fabrikarbeiterinnen und arme Bäuerinnen, sozusagen über verlorene, herumgestossene Wesen der damaligen Zeit schrieb. Gleichwohl war sie keine Frauenrechtlerin, sondern stets dem bürgerlich-konservativen Frauenbild ihrer Zeit verhaftet . Insofern hatte die etablierte Schriftsteller auch kein Problem damit ihr Dienstmädchen, das an einer selbstversuchten Schwangerschaftsunterbrechung fast verblutete, kaltblütig auf die Strasse zu stoßen.

Carola Stern zeigt am Beispiel dieses protestantisch-jüdischen Bildungsbürgerehepaares die unpolitisch naiven und unkritischen , teilweise auch sehr arroganten Betrachtungsweisen einer durchaus nicht völlig unliberalen Gesellschaftsschicht, die dem Antisemitismus und Nationalismus nicht frühzeitig Einhalt gebot , weil sie sich durch ihre gesellschaftliche Position und Vaterlandverbundenheit in vollkommener Sicherheit wähnte.

Carola Stern berichtet vom sozialen Hintergrund der Gründerzeit, den menschenunwürdigen Verhältnissen, den dunklen Seiten des Kaiserreichs. Aufgrund der aussichtlosen Lage vieler arbeitloser Frauen arbeiten um 1900 zwanzigtausend Berlinerinnen als Prostituierte.

Im Hause Cohn in Berlin Zehlendorf treffen sich damals zahlreiche Schriftsteller und Künstler, denn Clara Viebigs Mann ist ein geistig sehr interessierter, kommunikativer Zeitgenosse.

Als der erste Weltkrieg ausbricht engagiert sich Cohn materiell zu seinem pekuniären Nachteil an diesem Krieg. Den heraufziehenden Antisemitismus bemerkt der konvertierte Ehemann der protestantischen Schriftstellerin nicht.

Sohn Ernst, ein Enfant terrible, beherzter Casanova und späterer Kommunist, setzt sich in den 30er Jahren rechtzeitig nach Brasilien ab.

Befreundet ist die Famile u.a. mit den Juristen und Schriftsteller Armin T. Wegner , der Augenzeuge des Völkermordes der Armenier durch die Türken wird und später einen Mahnbrief an Hitler schreibt, der dazu führt, dass Wegner von den Nazis gefoltert und ins KZ verschleppt wird.

In diesem Zusammenhang thematisiert Stern auch die Bücherverbrennungen des 10. Mai 1933.

Die Schriftstellerin, die lange in Vergessenheit geraten ist, verstirbt 1952 in Zehlendorf. Cohn entkommt dem Naziterror, dadurch, weil er 1936 am Herzschlag verstirbt.

"Kommen Sie Cohn" ist ein äußert dicht geschriebener Text, der sich mit den Irrtümern und den Verblendungen des Bildungsbürgertums der wilhelminischen Zeit befasst, das schließlich den 10.Mai 1933 irritiert , aber letztlich ohne aufzubegehren zugelassen hat.

Im Vorwort nimmt Ingke Brodersen, die Lektorin Carola Sterns, von der großen Publizistin Abschied.

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