Rezension:'Wir sehen uns ins Auge, das Leben und ich' - Tagebücher 1895-1910

Sie war ihrer Zeit voraus!
1925 wurden diese Tagebücher das erste Mal der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Bedenklich erscheinende Sätze wurden damals gestrichen bzw. umformuliert. Auf diese Vorgänge wird zu Anfang des Buches in der Editionsgeschichte konkret hingewiesen.

Basis der vorliegenden Textfassung ist jedoch die Textvollständigkeit.

Die 1114 Fußnoten zu den Tagebüchern zwischen 1895 bis 1910 zeigen wieviel Mühe sich die beiden Kommentatoren bei der Erhellung von Reventlows oft kryptischen Eintragungen gemacht haben.

Man lernt durch den Text eine intelligente, gebildete Frau kennen, die fernab damaliger gesellschaftlicher Gepflogenheiten in der Kulturmetropole München das Leben einer Bohemien lebte. Von ihrer Herkunftsfamilie und ihrem Ehemann verstoßen, litt sie unter pausenlosen Geldsorgen. Die Folge ihrer Geldnöte waren Migräneanfälle und Depressionen , mitunter sogar heftigste Suizidgedanken.

Die Scheidung von Walter Lübke 1896 löste bei der damals 25 jährigen Gräfin Phasen unendlicher Trauer aus. Sie reagierte mit Krankheit und erholte sich erst ganz allmählich. Um sich über Wasser zu halten übersetzte sie Texte, ließ sich von Freunden und Bekannten Geld zustecken und arbeitete sogar gelegentlich in einem Bordell. Unabhängig von dieser Einnahmequelle hatte die schöne Reventlow unzählige Liebhaber. Ihre Sinnlichkeit und Leidenschaft lebte sie laut Tagebucheintragungen ungehemmt aus und fragte sich dabei irritiert, weshalb Erotik und Liebe für sie " so ganz auseinander gehen" .

Den Namen des Vaters gab sie beim Vormundschaftsgericht nicht an, als sie ihren Sohn Rolf 1897 zur Welt brachte. Auch im Tagebuch hält sie sich mit konkreten Eintragungen zurück.

Man lernt die Gräfin als eine sehr liebevolle Mutter kennen, die sich für die Entwicklung ihres Sohnes viel Zeit nahm.

Diese Fürsorge stand nicht im Widerspruch dazu erneut auf Bälle und andere Tanzveranstaltungen zu gehen. Sie liebte es sich zu amüsieren. Ungewöhnlich für eine Frau dieser Zeit fuhr sie häufig gerne mit dem Fahrrad und erwähnt dies immer wieder in ihrem Tagebuch.

Im Jahre 1900 reiste sie mit dem Geologen Albert Hentschel nach Griechenland und begann an ihrem Roman "Ellen Olestjerne" zu schreiben. Mit dem Kosmiker Karl Wolfskehl begibt sie sich nach Italien. Von ihrer großen Liebe Bohdan von Suchocki, einem polnischen Künstler und ihren Gefühlen zu ihm, schreibt die Reventlow ausführlich .

Das Tagebuch macht deutlich, dass die Reventlow eine sehr wissbegierige, voll im Leben stehende Frau war, die allerdings ungeheure chaotische Facetten aufweist.Wenn sie an irgendeiner Stelle ihrer Aufzeichnungen sagt:" Ich kriege immer alles, was ich will aber immer so , dass ich dann doch nicht viel davon habe." vgl.: S.330, verdeutlicht dies einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Willensstärke, ohne die sie ein solches Leben -fernab der gängigen Konventionen - hätte nicht führen können.

600 Seiten Tagebucheintragungen lassen sich in einer knappen Rezension kaum auf den Punkt bringen , insbesondere dann nicht, wenn es sich bei der Tagebuchschreiberin um einen "reflektierten Gefühlsvulkan" handelt.

Empfehlenswert!




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